Patenschaften – Einblicke in Begegnungen und Gedanken
Franziska Seise, Clara Bolldorf, Mona Hartel, Josefine Hilbeck, Leonie Anna Koll, Nina McAllister, Dennis Lange, Stefanie Roth, Katharina Sonnberg, Elena Tietze
Im Rahmen des Praktikumsprojekts Integration als dialogischer Prozess (2019/2020) übernahmen wir – Studierende des Instituts für Sozial- und Kulturanthropologie, Freie Universität Berlin – in Kooperation mit dem Weddinger Verein WIR GESTALTEN e.V. eine Patenschaft mit einem geflüchteten Kind oder eine*r Jugendlichen. Im geschützten Rahmen und unter Anleitung besprachen und reflektierten wir diese Erfahrungen regelmäßig miteinander und hinterfragten Grundannahmen sowie alltägliche Begrifflichkeiten kritisch. Die hier aufgeführten ethnographischen Vignetten sind erstes Ergebnis dieses Projektes. Wir wollen damit den Begriff der Patenschaft mit etwas Greifbarem und Lebendigem versehen und zugleich den eigenen Erlebnissen, Gedanken und Zweifeln eine Stimme geben. Eine einheitliche Definition von Patenschaften – nach der wir immer wieder gefragt wurden und die wir unsererseits immer wieder suchten – ist zumeist unmöglich. Ein Stück weit können wir uns jedoch in allen Darstellungen wiedererkennen. Aus den Erfahrungen und Begegnungen konnten wir ungeheuer vieles lernen und neue Erkenntnisse ziehen – nicht zuletzt über uns selbst. Es entstehen Beziehungen, die uns mit jedem Tag mehr ans Herz wachsen und die Vielfalt der Stadt in unseren Alltag holen.
Elena –Berliner Identität
Es ist eines unserer ersten Treffen. Wir wollen unbedingt mit den Kindern Schlittschuhlaufen gehen und fahren dafür zum Potsdamer Platz, am Weihnachtsmarkt mit all seinen Lichtern vorbei, zur Eislaufbahn. Als wir uns dem Eis nähern, werden die Jungs etwas ängstlich. Sie sind vorher noch nie Schlittschuh gefahren. Sie werden jedoch immer schneller, selbstsicherer und überholen mich am Ende. Als wir die ausgeliehenen Schlittschuhe wieder abgeben, versuchen uns die Schlittschuhverleiher in ein Gespräch zu involvieren. Hassan übergibt seine Schlittschuhe, Größe 32, und der Mann fragt ihn nach seinem Namen: „H-A-S-S-A-N“. Jonas stößt hinzu und auch er sagt seinen Namen. Ich merke, dass der Mann neugierig wird. Er fragt weiter, wie alt sie seien, ob sie zur Schule gingen und mich: „Sind sie die Betreuerin?“ Offensichtlich schließt er eine Verwandtschaftsbeziehung aus. Ich sage: „Ja, so etwas in der Art“ und lasse Hassan und Jonas weiterreden. Der Mann fragt sie, woher sie kämen, und sie sagen „Berlin!“ – „Ja… aber woher kommen eure Eltern?“ Und Hassan, langsam ungeduldig: „Unsere Eltern sind zu Hause!“, woraufhin er den durch seine Antwort unbefriedigten Schlittschuhverleihern den Rücken zukehrt und wir uns auf den Heimweg machen.
Josefine – Gemütlich bei mir
Hala sitzt am Tisch bei mir in der Küche. Ich bin dabei, Wasser für einen Tee zu erhitzen. Sie war nun schon des Öfteren bei mir und sitzt ganz entspannt da, erzählt von ihrem Tag. Ich frage sie, ob sie etwas essen oder trinken wolle. Sie winkt ab und sagt, sie habe schon zu Hause gegessen. Als ich ein paar Kekse heraushole, greift sie dennoch zu. Hala erzählt, dass sie müde sei, weil sie fast direkt von der Schule und von dem Eltern-Kind-Lehrer-Gespräch komme. Ich frage sie, wie es gelaufen sei. Sie ist recht zufrieden und zeigt mir ein Foto. Ich verstehe zunächst nicht, aber dann erklärt sie: „Hier, das ist meine Lehrerin, Frau Bulut, mit uns. Eigentlich mag ich sie ja nicht so, aber vor einigen Tagen haben wir das Klassenzimmer aufgeräumt und richtig sauber geputzt. Ich und zwei Freundinnen. Sie hat uns gelobt und dann haben wir Fotos zusammen gemacht. In dem Moment war meine Lehrerin richtig nett und ganz anders.“ Ich hatte mich in der Zwischenzeit zu ihr an den Tisch gesetzt und gucke auf ihr Handy. Ich bestätige ihr, dass das Foto schön sei und ihre Klassenlehrerin wirklich sympathisch aussehe. Hala lacht: „Ja, in dem Moment war sie ganz cool, aber glauben Sie mir, ihr Unterricht ist todeslangweilig, sie labert die ganze Zeit und da kann ich gar nicht anders, als mich zu langweilen.“ Sie erzählt weiter, dass sie sich freue, weil im Gespräch mit den Eltern und der Lehrerin immer wieder betont wurde, wie hilfsbereit sie sei und dass sie den Klassenzusammenhalt stärke. Die Kritikpunkte sind die üblichen: Sie rede zu viel mit den Mitschülern und Mitschülerinnen im Unterricht und habe Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Und vor allem lache sie zu viel. Hala kann das nicht verstehen. „Äh, Josefine, wollen die Lehrer, dass ich im Unterricht stattdessen weine? Sie können uns doch das Lachen nicht verbieten. Das ist doch viel besser als immer traurig zu sein.“ Auf diese Frage weiß ich auch keine gute Antwort.
Katharina – Lehrer*innen oder Freund*innen?
Franziska, die Patin einer der jüngeren Schwestern von Juju, und ich treffen uns an der Straßenecke, um gemeinsam auf die Verlobungsfeier meiner Patenjugendlichen zu gehen. In der Wohnung der Familie angekommen, begrüßen wir etwas schüchtern die bereits anwesenden Gäste und setzen uns schließlich in eine der hinteren Stuhlreihen. Wir sind nervös, weil wir nicht wissen, was uns erwartet. Immer wieder kommen wir mit den Frauen und Mädchen um uns herum ins Gespräch. Meistens geht es darum wer wir sind, was wir machen und wann es denn endlich losgehe. Als Franziska wie selbstverständlich die Frage einer Frau, ob wir Lehrerinnen von Juju seien, bejaht, fühle ich mich auf einmal unwohl.
Bei den Patenfamilien werden die Pat*innen häufig als Lehrer*innen bezeichnet. Der Verein versucht die verschiedenen Rollen einer Patenschaft zu erklären und spricht von Begleiter*in, Unterstützer*in, Ermutiger*in, Freund*in, Lehrer*in. „Lehrerin“ scheint jedoch eines der Hauptanliegen der Eltern bei der Aufnahme einer Patenschaft für ihr Kind widerzuspiegeln, weshalb sich der Begriff bei vielen Familien durchgesetzt hat. Deutlich wird, dass unterschiedliche Erwartungshaltungen aufeinandertreffen. Welche Vorstellungen habe ich von meiner Patenschaft und welche die Eltern und Kinder? Klar spielt auch schulische Unterstützung eine Rolle in unseren Treffen, aber ich möchte nicht nur als Lehrerin gesehen werden. Aber wieso genau habe ich ein Problem mit dieser Bezeichnung für die Beziehung, die ich zu Juju habe? Vielleicht zum einem, weil sie so eindimensional klingt. Außerdem vermittelt sie etwas von Verantwortung und Autorität, gibt ein klares Rollen- und Machtverhältnis vor, was meinen Vorstellungen von einer Patenschaft widerstrebt. Vielleicht sträube ich mich auch, weil ich doch an dem so oft propagierten Ideal der Augenhöhe festhalte, das wir schon relativ zu Beginn für uns als Forschungsgruppe als Illusion problematisiert haben. Wenn ich aber stattdessen sage, wir sind Freundinnen, weil ich eben eine Beziehung anstrebe, die weniger hierarchisch aufgebaut ist, kann ich die Machtasymmetrien vielleicht eher umgehen. Oder verschleiere ich diese dann einfach nur, da sie zwangsläufig existieren?
Jedenfalls bemerkt Franziska meine Irritation und fragt mich, was ich denn denke für Juju zu sein. Woraufhin ich fragend mit einem „vielleicht wie eine Freundin?“ antworte. Ich erinnere mich, dass Juju bei einem unserer ersten Treffen zu mir meinte: „Sie sind meine einzige deutsche Freundin“.
Nina – Corona-Zusammenschluss
Es ist ein Samstag Anfang März 2020 und die Corona-Angst hat sich auch schon in der Familie verbreitet. Mein Patenkind und ich sitzen gerade am Wohnzimmertisch und zeichnen, als ich eine Nachricht bekomme: Mein Mitbewohner kommt aus einem Risikogebiet mit Ausgangssperre in unser Wohnheim zurück. Ich erwähne es bei Sero nur beiläufig, aber kurz darauf kommt seine Mutter ins Zimmer und besteht darauf, dass ich ein paar Tage bei ihnen bleibe. Ich bin sehr zögerlich, will nicht zusätzlich eine Belastung sein. Auch der Vater und die Kinder wiederholen, dass ich bleiben soll. Also einigen wir uns auf eine Nacht, bevor ich nach Bayern zu meiner Familie fahre. Kurzerhand eile ich los, um einen kleinen Koffer zu packen. Wieder zurück will Leila, Seros Mutter, auch mit meiner Mutter telefonieren und sie unterhalten sich eine Weile. Nach dem Essen helfe ich noch beim Abspülen – was ich heute zum ersten Mal darf, mit der Begründung, dass ich jetzt Teil der Familie sei. Bevor wir ins Bett gehen, zeigt mir Leila, wo ich Sachen fürs Frühstück finde, erklärt, dass ich alles im Bad benutzen könne und in ihrem Bett schlafen solle. Sie und der Kleine legen sich dazu und wir hören auf YouTube Koran. Obwohl ich nicht muslimisch bin, bewegt mich das Video. Das Kind ist sehr aktiv und es dauert eine Weile, bis es ruhig wird. Aber die Situation hat dennoch etwas sehr Beruhigendes und Vertrautes. Irgendwann merke ich, wie Leila aufsteht und zu ihrem Mann geht. Nach einer Weile höre ich Gebet aus dem Wohnzimmer. Um halb sechs wache ich am nächsten Morgen auf, weil ich Stimmen höre. Seros Bruder ist zum Beten gegangen. Ich schlafe wieder ein und um sieben kommt Sero ins Zimmer und wir quatschen und spielen leise zusammen, bis sein älterer Bruder aufwacht. Zusammen verbringen wir den Morgen und die beiden helfen mir, Kaffee zu machen.
Linolschnitte: Elena Tietze (Patin bei WIR GESTALTEN e.V.)